„Verlässliche Schule“ ist ein feststehender Begriff im Schulgesetz unseres Nachbarlandes Hessen. Was sich dahinter verbirgt und ob es in der Praxis tatsächlich so schön ist wie es klingt, erzählt Maike Wiedwald, stellvertretende Vorsitzende der GEW Hessen.
Das Hessische Schulgesetz garantiert die Sicherstellung verlässlicher Schulzeiten. Bedeutet das, dass kein Unterricht mehr ausfällt?
Nein, selbstverständlich nicht. Das Hessische Schulgesetz sieht vor, dass die Schulen für eine verlässliche Schulzeit von mindestens vier Zeitstunden in den Klassen 1 und 2 zu sorgen haben. Fünf Zeitstunden sind es von der dritten bis mindestens siebten Klasse, am Vormittag in eigener Zuständigkeit. Hiervon darf laut Schulgesetz nur dann abgewichen werden, wenn plötzlich – zum Beispiel aufgrund einer Grippewelle – gleichzeitig mehrere Lehrkräfte erkrankt sind.
Dabei darf man den Begriff der Verlässlichen Schulzeit auf keinen Fall mit qualifiziertem Vertretungsunterricht gleichsetzen. Es wird auch kein qualifizierter Fachunterricht – beispielsweise in der Sporthalle – angeboten, sondern eine Aufsicht auf dem Schulhof betreut die Bewegte Stunde. In der Regel wird dabei Personal ohne pädagogische oder fachliche Ausbildung eingesetzt.
Gibt es zusätzliche Stellen für Lehrer*innen, um Unterricht für die sogenannte Verlässliche Schule zu garantieren?
Das wäre schön, findet aber leider nicht statt. Den Schulen wird ein Budget für die Verlässliche Schule – kurz VSS – zugewiesen, das über die Schulämter abgerechnet wird. Bei Schulen, die das Kleine Budget beschlossen haben, befindet sich der Etat für Verlässliche Schule in diesem Schulbudget. Was passiert, wenn der Topf aufgebraucht ist, ist sehr unterschiedlich. Teilweise gibt es eine Nachsteuerung durch das Schulamt, Schulen mit dem Kleinen Budget müssen das fehlende Geld aber aus anderen – jeweils deckungsfähigen – Töpfen nehmen, zum Beispiel dem für die Fortbildung der Kolleg*innen der jeweiligen Schule. Einige Schulen kommen hier in sehr große Nöte. Jede Schule erhält pro Lehrer*innenstelle einen Fortbildungsetat von 40,- Euro im Schuljahr. Wenn nun die VSS-Mittel aufgebraucht sind und die Schule zum Beispiel fünf Lehrer*innenstellen hat, dann ist die Rechnung einfach: Es können an dieser Schule 200,- Euro für das Kollegium für Fortbildung ausgegeben werden oder eben bei einem Stundensatz von 20,- Euro zehn Stunden verlässliche Schulzeit bezahlt werden.
Seit einigen Jahren sieht die Zuweisung für Schulen in Hessen eine 104- beziehungsweise 105-prozentige Zuweisung vor. Diese kommt aber nicht bei den Schulen an. Kaum einer Schule stehen real mehr als 100 oder 101 Prozent zur Verfügung. Außerdem gibt es an den einzelnen Schulämtern mobile Vertretungsreserven – zumindest für den Grundschulbereich. Da in Hessen aber gerade an Grund- und Förderschulen ein großer Lehrkräftemangel besteht, sind hier die Stellen zwar auf dem Papier vorhanden, nicht aber in der Realität. So kann oft der verpflichtende Unterricht nicht angeboten werden, für Vertretungsunterricht bleiben da überhaupt keine Möglichkeiten mehr.
Wenn externe Kräfte und Angebote zum Einsatz kommen, stimmt die Qualität?
Die externen Vertretungskräfte verfügen zumeist über kein abgeschlossenes Lehramtsstudium oder eine andere pädagogische Qualifikation. So hatten von den weit über 9.200 Personen, die 2015 von der Verwaltung mit einem VSS-Rahmenvertrag in Hessen geführt worden sind, lediglich 35 eine Lehramtsbefähigung – das sind noch nicht einmal 0,4 Prozent.
Sicherlich gibt es auch bei den externen Kräften Personen, die qualitativ gut arbeiten, aber es bleibt fatal, dass wieder einmal der billigere Weg eingeschlagen wird: Statt ausgebildeter Pädagog*innen werden die weitaus kostengünstigeren externen Kräfte eingesetzt – die Verträge werden vom Land Hessen abgeschlossen. Und nochmal: Der Vertretungsunterricht durch VSS-Kräfte ist kein Fachunterricht, sondern es handelt sich um Betreuungsangebote.
Außerdem wird mit den Vertragsverhältnissen an den Schulen ein weiteres Feld prekärer Beschäftigung geschaffen. Die externen VSS-Kräfte werden stundenweise entlohnt. Diese erfolgt in drei Stufen, je nach Qualifikation von 15,- bis 26,- Euro pro Stunde.
Wie sind die Erfahrungen der Schulen? Was sagt die GEW?
Aus vielen Schulen ist nach wie vor zu hören, dass viele Kolleg*innen auch bei Krankheit den Unterricht vorbereiten und an dem Tag noch Materialien in die Schule schicken. Das ist aber zusätzliche Mehrarbeit, die in keiner Weise Beachtung findet, sondern die Kollegen*innen weiter unter Druck setzt. An vielen Schulen wurden die Kolleg*innen genötigt für ihre Klassen und/oder für ihre Fächer VSS-Ordner anzulegen und in den Lehrerzimmern zu deponieren, damit die Vertretungskräfte sich mit Material für die Vertretungszeit ausstatten konnten.
Die GEW Hessen fordert seit Jahrzehnten eine 110-prozentige Unterrichtsversorgung. Nur mit dauerhaft eingestelltem, pädagogisch qualifiziertem Personal ist es möglich, seriös für die kontinuierliche sowie hochwertige Betreuung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen einzustehen.
Darüber hinaus muss das Land Hessen eine mobile Vertretungsreserve bereitstellen, die über die hessenweit 300 Lehrer*innenstellen im Grundschulbereich hinausgeht. Auch die Schulen der Sekundarstufe I müssen in den Aufbau der mobilen Vertretungsreserve einbezogen werden. Ein besonderes Aperçu: Nach Paragraf 15b des Hessischen Schulgesetzes können Verträge mit Anbietern von Personaldienstleistern abgeschlossen werden, denen man zutraut, den Einsatz von qualifiziertem Personal zu gewährleisten!
Die Fragen stellte Michael Schulte, Geschäftsführer der GEW NRW.