Wenn über Bildung gesprochen wird, werden nicht selten Begriffe wie Flexibilität, Kompetenzentwicklung und Bildungsindustrie verwendet. Auf welches Verständnis von Bildung zielen diese Begriffe ab und was ist das Problematische daran?
Marc Fabian Buck: Die Art und Weise, in der Schule heute betrieben wird, steht für einen großen Bruch mit der klassischen Vorstellung von Bildung und einen radikalen Wandel des Bildungssystems. Wir sprechen von einem Wechsel von einer Input- zu einer Outputsteuerung. Dahinter steckt eine sehr technische Vorstellung von Bildung und Erziehung: Es werden nicht mehr fachlich vereinbarte Inhalte in den Unterricht hineingetragen, sondern Lehrkräfte und Schüler*innen müssen einen bestimmten Output oder bestimmte Kompetenzen produzieren. Und wenn das nicht klappt, ist das entweder die Schuld der Schüler*innen, oder die Lehrkräfte werden in die Verantwortung genommen. Es wird aber komplett ignoriert, dass Schule und Bildung sehr komplexe soziale Prozesse sind, an denen viele Personen und Umstände beteiligt sind. Das führt insgesamt dazu, dass sich Schule als Institution und der Lehrberuf massiv verändern.
Inwiefern?
Marc Fabian Buck: Heute müssen Schulen um ihre Schüler*innenschaft konkurrieren. Sie müssen Schulprofile entwickeln und sich möglichst sichtbar von anderen Einrichtungen abheben. Dass dadurch mehr gelernt wird, steht infrage. Wohl aber werden Ressourcen investiert, die angesichts der sehr dünnen Personaldecke an den meisten Schulen möglicherweise anders besser investiert wären. Dahinter steckt eine Idee des Marktes, der über Konkurrenz die Angebote besser werden lässt. Mit der Übernahme solcher Ökonomisierungslogiken wird auch das Management-Vokabular auf die pädagogische Praxis bezogen: Da ist die Rede von Classroom Management statt Didaktik, von Lernbegleitung und Coaching statt erziehendem Unterricht, von selbst organisiertem Lernen statt Unterrichtsgespräch. Für Lehrkräfte ist das ein willkommenes Entlastungsversprechen angesichts der steigenden Anforderungen an sie.
Anhand welcher Reformen in den vergangenen 20 Jahren lässt sich der neoliberale Einfluss im Bildungsbereich besonders gut veranschaulichen?
Marc Fabian Buck: Der tiefgreifendste Einschnitt seit der Bildungsexpansion der 1970er-Jahre sind ohne Zweifel die Lissabon- und Bologna-Erklärungen und die mit ihnen verbundenen Folgen. Ab den 2000er-Jahren kommen große internationale Vergleichsstudien hinzu, die der bereits beschriebenen Konkurrenzlogik das Wort reden – beispielsweise PISA oder IGLU. Die jüngere Karriere des Kompetenzbegriffs nimmt dort ihren Anfang, obwohl es schon Vorläufer gab.
Welche Folgen ergeben sich daraus für Bildungseinrichtungen und für die Menschen, die dort lehren und lernen?
Marc Fabian Buck: Wir beobachten eine Veränderung der Bildungsverwaltung. Die Überschrift hierfür ist das New Public Management beziehungsweise das Neue Steuerungsmodell: Öffentliche Einrichtungen sollen einen Output generieren, der für die zukünftige Mittelzuweisung ausschlaggebend ist. Angestellte des öffentlichen Dienstes müssen ihre Ausgaben rechtfertigen. Das zieht eine erhöhte Dokumentationspflicht und andauernde Evaluationen nach sich. Dieser Wandel ist in der Kita in besonderer Weise zu beobachten, aber auch in der Schule. Eine solche Idee der administrativen Steuerung trägt dann seltsame Blüten. Wenn für eine Schule die Mittelzuweisung vom Abschneiden in Vergleichstests abhängt, dann führt das unter Umständen zu einem „Teaching to the Test“ – einer Form des Unterrichts, die die Bildungsaufgabe der Institution vernachlässigt und stattdessen möglichst viele ihrer Adressat*innen „gut durchbringt“. Nun mag aber bildender Unterricht im Sinne der Erreichung von Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität anders aussehen. Besonders das Schwinden der Solidarität im Zuge der Konkurrenzsteigerung beobachte ich mit großer Sorge.
Wer nimmt neben Politiker*innen steuernden Einfluss auf das Bildungswesen?
Marc Fabian Buck: Hier sind zunächst einmal privatwirtschaftliche Akteur*innen zu nennen. Es entstehen immer mehr Public-Private-Partnerships, in deren Rahmen etwa Projekte an Schulen initiiert und Unterrichtsmaterialien gestaltet werden. Doch das ist nur eine Form der Einflussnahme. Besonders im Zuge der Digitalisierung haben wir es mit einem Wildwuchs an Hard- und Softwareanbietern zu tun, die vom Mangel bildungspolitischer Steuerung profitieren. Hier werden Schüler*innendaten gesammelt, ohne dass Lehrkräfte oder Schulleitungen wüssten, welche Datenströme wohin fließen. Darüber hinaus sind auch Arbeitgeber- und Lobbyverbände sowie Stiftungen wichtige Akteure. Studien zeigen, wie sie durch die Finanzierung von Forschungsprojekten Forderungen an die Bildungspolitik formulieren. Über solches Agenda Setting wird Diskurshoheit über Schulkritik und vermeintlich unstrittige Auswege aus der Misere hergestellt. Das zentrale Problem dieser Einflussnahme ist, dass Lobbyverbände und Stiftungen als gemeinnützig auftreten, aber selbstverständlich handfeste ökonomische Interessen vertreten. Ihr Vorgehen und ihre Agenda sind wenig transparent, während gleichzeitig ein Mangel an öffentlicher Kontrolle besteht.
Wie wirken sich die genannten Strategien auf der individuellen Ebene der Lernenden und Lehrenden aus?
Marc Fabian Buck: Auf individueller Ebene sind Schüler*innen, aber auch Lehrkräfte solchen Prozessen ausgeliefert, ohne dass es Mechanismen des Einspruchs dagegen gäbe. Dabei handelt es sich um ein sich selbst verstärkendes Problem. Denn um informiert über Ökonomisierung sprechen zu können, müsste sie in der Aus- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften problematisiert werden. Tatsächlich fristet dieses Thema in den Lehrplänen jedoch ein Nischendasein – egal ob es um die Ausbildung von sozialpädagogischen Assistent*innen oder um das Lehramtsstudium geht. Im Alltag von Lernenden und Lehrenden ist zudem die Reform zum Normalzustand geworden. Planbarkeit und langfristiges Denken weichen der vermeintlichen Notwendigkeit zur Schaffung immer neuer Daten – während zugleich das Bildungssystem in Deutschland chronisch unterfinanziert ist. Das ist peinlich für die inzwischen drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
Inwieweit gilt das auch für die Hochschulen?
Marc Fabian Buck: Dort haben wir es mit einem gesteigerten Produktionsdruck zu tun, was sowohl Publikationen als auch Drittmittel betrifft – bei gleichzeitiger Prekarisierung vor allem des Mittelbaus, aber auch des studentischen und wissenschaftsunterstützenden Personals. Es stellt sich die Frage nach der tatsächlichen Freiheit von Forschung und Lehre, wenn die Drittmittelakquise zum zentralen Kriterium für die Berufung auf Professuren wird. Das Budget vieler Hochschulen speist sich inzwischen zu über 50 Prozent aus Drittmitteln. Zeitgleich werden viele Professuren bei der Neubesetzung in Juniorprofessuren umgewandelt. Hier sollen sich Nachwuchswissenschaftler* innen profilieren und stehen in dauerhafter Prüfung.
Was bedeutet die zunehmende Ökonomisierungslogik für den Alltag von Kindern und Jugendlichen?
Marc Fabian Buck: Schon Kindergartenkinder werden als pädagogische Ich-AGs begriffen, die für ihren eigenen Lernerfolg mit- beziehungsweise alleinverantwortlich sind. Was diese Umsteuerung mit sich bringt, ist eine Situation dauerhafter Prüfung. Kinder werden ständig geprüft – etwa auf sprachliche und motorische Fortschritte. Dabei besteht Grund zur Sorge, dass junge Leute die Prüfungssituation so sehr verinnerlichen, dass sie ihren Selbstwert nur noch aus Prüfungsergebnissen ableiten. Es wird immer schwieriger zu sagen: „Du bist ein guter Mensch, auch wenn du gerade nicht die volle Punktzahl erreicht hast.“ Aber genau das ist pädagogische Aufgabe: eine Bildungsidee zu vermitteln, die unabhängig von der Nützlichkeit eines Menschen für die Gesellschaft oder Wirtschaft ist.
Wie bewerten Sie die zunehmende Ökonomisierung mit Blick auf den Bildungserfolg marginalisierter Gruppen?
Marc Fabian Buck: Die Ökonomisierung verstärkt allgemein Ungleichheiten, was man im Bildungsbereich selbstverständlich ebenfalls bemerken kann. Marginalisierte Gruppen werden noch stärker marginalisiert, je stärker die Ökonomisierung voranschreitet. Und die, die richtig viel Geld haben, flüchten sich in Privatschulen. Damit entsteht Segregation, obwohl laut Artikel 7, Absatz 4 des Grundgesetzes in Deutschland ein Sonderungsverbot besteht: Es soll keine unterschiedlichen Schulen in Abhängigkeit von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern geben – aber genau das passiert. Damit geben wir das Sozialstaatsprinzip auf und rütteln an den Grundfesten unserer Republik.
Gibt es einen Weg, die Ökonomisierungstendenzen zu durchbrechen?
Marc Fabian Buck: Auch in den dunkelsten Zeiten und Epochen hat es Menschen gegeben, die gegen Unterdrückung und Ungleichheiten protestiert haben. Ich habe deshalb immer noch Hoffnung, dass sich Rahmenbedingungen verändern können. Dafür brauchen wir in erster Linie wieder einen Begriff von Solidarität als Gegenbegriff zur Konkurrenz. Die Gewerkschaften spielen dabei eine große Rolle: Hier können sich Fachkräfte positionieren und darauf pochen, ein selbstbewusstes Professionsethos für Pädagog*innen herauszubilden. Ziel sollte sein, gebildete Menschen hervorzubringen – und nicht die für die Wirtschaft nützlichste Arbeitskraft. Um diese Ziele durchzusetzen, müssen wir Druck machen und unsere Interessen vertreten. Denn das ist das Einzige, das in der Politik funktioniert: Öffentlichkeit herstellen, Druck erzeugen und produktiv streiten.